Casa Legno ebnet Weg für Mehrfamilienhäuser aus Vollholz
Im schwäbischen Metzingen ist ein nachhaltiges und ökologisches Vorzeigeprojekt im Wohnungsbau entstanden: Mit dem Casa Legno wurde das Innere eines der ersten Mehrfamilienhäuser Deutschlands in Vollholzbauweise errichtet. Möglich machten dies unter anderem das patentierte Verfahren der holzius GmbH aus Südtirol sowie die verantwortlichen Tragwerksplaner vom Ingenieurbüro IBS Bau-Statik PartG, die Einblicke in die konstruktiven und statischen Herausforderungen des Bauvorhabens geben.
Das Bauen von Häusern und Gebäuden aus Holz birgt für Planer zahlreiche architektonische und statische Herausforderungen: die Anisotropie von Holz, die strengen Brandschutzvorschriften und der Schutz vor Feuchtigkeit. Insbesondere der Bau von Holzhochhäusern ist geprägt von Debatten rund um echte Nachhaltigkeit und Sicherheit. Trotzdem stellt Holz beim Bau von mehrgeschossigen Gebäuden zunehmend eine ernsthafte ökologische und ökonomische Alternative dar. Das Errichten von Holzbauwerken ist längst nicht mehr nur den Einfamilienhäusern vorbehalten. Wie die Berufsorganisation Holzbau Deutschland in ihrem Lagebericht 2022 aufschlüsselte, lag die Quote der genehmigten Neubauten in Holzbauweise sowohl im Wohnbau als auch im Nichtwohnbau deutschlandweit bei ca. 21% und ist damit seit 2017 um 4% gestiegen (Quelle: Lagebericht 2022 Holzbau Deutschland).
Die Vorzüge von Holz als Baustoff
Doch woran liegt es, dass Bauherren, Architekten und Ingenieure selbst beim Bau von Hochhäusern und Mehrfamilienhäusern zunehmend auf Holz als Baustoff setzen? Die Vorzüge von Holz im Hinblick auf den Klimaschutz liegen auf der Hand: Holz ist ein natürlicher, nachwachsender Rohstoff, der Kohlendioxid bindet. Das Einsetzen von Holz am Bau senkt nachweislich den CO2-Fußabdruck. Neben der guten Ökobilanz sprechen das angenehme Innenraumklima, die trockene und schnelle Montage von Holzelementen und die hohe bauphysikalische Qualität für den Einsatz von Holz beim Errichten von Hoch- und Mehrfamilienhäusern.
Die Spezifikationen des Casa Legno
Eines dieser Mehrfamilienhäuser aus Holz lässt sich als Leuchtturmprojekt seit 2023 in Metzingen finden. Das Casa Legno (italienisch für Holzhaus) gehört zur Gebäudeklasse 4 und umfasst 16 Eigentumswohnungen und eine Tiefgarage. Lediglich die Tiefgarage und der zur Aussteifung erforderliche Erschließungskern (Treppenhaus mit Aufzug) wurden in Stahlbetonbauweise ausgeführt. Die Wände der Tiefgarage, des Treppenhauses und des Aufzugs wurden mit einer Dicke von 24cm geplant. Sämtliche Außen-, Innen- und Trennwände sowie alle Decken des Gebäudes sind hingegen in Vollholzbauweise patentiert durch die holzius GmbH aus Südtirol errichtet worden. Die Wände der Ebenen E0 bis E3 wurden dabei als holzius 180mm-Vollholzwände nach Zulassung ETA-15-0729 gefertigt. Die Decken über E0 bis E2 wurden als liniengelagerte Einfeldträger als holzius 160mm-/180mm-/220mm-Vollholzdecken – in Abhängigkeit von Spannweite und Belastung –, die Dachdecke über E3 (z.T. mit Kragarm) als holzius 120mm-Vollholzdecke nach Zulassung ETA-17-0745 konzipiert.
Die Funktionsprinzipien „Vergraten” und „Verkämmen“
Den Vollholzelementen von holzius liegen die Funktionsprinzipien „Vergraten” und „Verkämmen“ zugrunde. Sie ermöglichen ein Massivholzsystem bestehend aus Wand-, Dach- und Deckenelementen, das die quellenden und schwindenden Eigenschaften von Holz für sich nutzt und gänzlich ohne Leim- und Metallverbindungen auskommt. Als mehrlagig stehender Block bestehen die Vollholzelemente aus senkrecht angeordneten und ineinander verzahnten Massivholzbohlen, die mit schwalbenschwanz-förmigen Massivholz-Gratleisten verbunden sind und so eine hohe Tragfähigkeit erreichen. Mehrgeschossige Gebäude lassen sich folglich setzungsfrei realisieren. Dank des genau bemessenen Freiraums für jede Holzbohle treten keine Maßveränderungen bei Feuchtigkeit auf. Durch das Verkämmen der Deckenelemente ist die gesamte Deckenfläche außerdem wind-, luft- und rieseldicht.
IBS Bau-Statik verantwortet die Tragwerksplanung
Die speziellen Eigenschaften des Massivholzsystems von holzius erforderten Tragwerksplaner mit Expertise und Kapazität für die statischen Berechnungen am Gebäude. Doch der Bauherr, die Sigrid Held GmbH aus Grafenberg, tat sich schwer bei der Suche nach einem geeigneten Büro. „Ursprünglich wurden wir beauftragt, die Genehmigungs- und Ausführungsplanung für den Massivbau zu übernehmen“, erinnert sich Dipl.-Ing. Andreas Schnizler vom Ingenieurbüro IBS Bau-Statik PartG. „Schließlich haben wir uns bereiterklärt, auch die statischen Berechnungen und die Ausführungsplanung für den Holzbau in enger Zusammenarbeit mit holzius zu erbringen. Wir bekamen ausreichend Zeit, uns das notwendige Know-how über die konstruktiven Details anzueignen. Zudem standen uns holzius und ein erfahrener Statiker aus Augsburg in regelmäßigen Videokonferenzen beratend zur Seite“, so Schnizler weiter. Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Sebastian von Seggern (B. Eng.) übernahm er die gesamte Tragwerksplanung für das Bauvorhaben. „Das Projekt hat in den letzten eineinhalb Jahren einen hohen Stellenwert in unserem Büro eingenommen“, resümiert von Seggern.
„Das Gebäudemodell von FRILO ist auf den Massivbau ausgerichtet. Es hat gut funktioniert, die Systematik, die dem GEO zugrunde liegt, auf den Holzbau zu übertragen. Aber das Erfassen der richtigen Massen hat uns durchaus gefordert."
Dipl.-Ing. Andreas Schnizler
Der Vertikallastabtrag mit dem GEO
Die größte konstruktive Herausforderung für die Tragwerksplaner bestand darin, sicherzustellen, dass die Horizontal- und Vertikallasten sicher abgetragen werden würden. Die Lastabtragung der vertikalen Linienlasten setzten die Tragwerksplaner über die tragenden Außen-, Innen- und Wohnungstrennwände aus Holz an. Punktlasten ließen sich durch eine entsprechende „Verstärkung“ der Vollholzwände aufnehmen. In Ausnahmefällen erfolgte die Lastabtragung über Holzpfosten bzw. Stahlstützen. Eine gleichmäßige Gründung stellten die Ingenieure mit Streifen- und Einzelfundamenten sicher. Für die Ermittlung des vertikalen Lastabtrags setzten sie das Programm Gebäudemodell GEO von FRILO ein. „Das Gebäudemodell von FRILO ist auf den Massivbau ausgerichtet. Es hat gut funktioniert, die Systematik, die dem GEO zugrunde liegt, auf den Holzbau zu übertragen. Aber das Erfassen der richtigen Massen hat uns durchaus gefordert“, sagt Schnizler und bezieht sich dabei vor allem auf den horizontalen Lastabtrag infolge Lastfall Erdbeben.
Die horizontale Aussteifung der Deckenscheiben
Die exzentrische Lage des aussteifenden massiven Erschließungskerns und die damit verbundenen Exzentrizität zwischen Massenschwerpunkt und Schubmittelpunkt führten zu einem komplexen, unregelmäßigen Schubkraftverlauf. Es wäre sehr aufwendig und unwirtschaftlich gewesen, die entsprechenden Fugen der einzelnen Vollholzelemente mittels gekreuzter Vollgewindeschrauben abzudecken. Daher wurden die Vollholzdeckenelemente mit einem Aufbau aus Holzwerkstoffplatten versehen, sodass verhältnismäßig steife Deckenscheiben entstanden.
Weil sich die Holzdecken aus einzelnen Holzbalken zusammensetzen, griffen die Ingenieure für die Bemessung auf den Durchlaufträger von FRILO zurück. Schwingungs- und Brandschutznachweise wurden ebenfalls mit dem DLT+ erbracht. Für die Bemessung der Massivdecke über der Tiefgarage (h=25cm) wurden die Lasten des Holzbaus angesetzt. Es kam das Plattenprogramm von FRILO für die FEM-Berechnung zum Einsatz. Für die Bemessung der Fundamente vertrauten die Tragwerksplaner auf das FDS+ und das FD+. „Die Software von FRILO ist sehr anwenderfreundlich, einfach und schnell zu bedienen. Für alltägliche Projekte von der Dimension von Einfamilienhäusern und im Geschosswohnbau eignet sich FRILO bestens und überzeugt dank des hervorragenden Preis-Leistungsverhältnisses gegenüber anderen Softwareanbietern“, lobt Schnizler.
Die horizontale Aussteifung der Wandscheiben
Für die Ermittlung der H-Lastverteilung bestimmten die Ingenieure die Federsteifigkeiten infolge der Schubsteifigkeit der Wände (Stahlbeton und Vollholz) und die Nachgiebigkeit der Anschlussverbindungen der Holzdecken am Stahlbetonkern (Stahlwinkel mit Holzschrauben). Aufgrund der Steifigkeitsverhältnisse ergab sich eine 86%ige H-Lastverteilung auf die Stahlbetonwände im Kern und eine 14%ige H-Lastverteilung auf die holzius-Vollholzwände. Die Aussteifung und Abtragung der Horizontallasten erfolgte also hauptsächlich über die massiven Treppenhaus- und Aufzugswände. „Im Regelfall mussten wir die Steifigkeiten der Anschlussverbindungen zugrunde legen, weil sie maßgebend waren und nicht der Stahlbetonkern in seiner Steifigkeit. Dadurch lassen sich mitunter nur Grenzwertbetrachtungen anstellen“, weist Schnizler auf nur eine von vielen Herausforderungen hin.
Auf der sicheren Seite ermittelten die Ingenieure die maßgebenden Schnittkräfte für die Stahlbetonwände mit 100% Horizontallast. Wegen der exzentrischen Lage des aussteifenden massiven Erschließungskerns entstand eine Torsionsbeanspruchung bei der H-Lasteinwirkung in Längsrichtung. Darum zogen die Tragwerksplaner nur einzelne, im Grundriss möglichst weit außen liegende Vollholzwände rechnerisch für die Aussteifung heran. Sie berechneten diese ebenfalls auf der sicheren Seite mit 20% der H-Last. Mit Hilfe des modifizierten Elastizitätsmoduls (1.400 N/mm²) wurde jene ca. 20%ige Horizontallast auf die Vollholzwände simuliert. „Die Gegenüberstellung war wichtig, um nachher definieren zu können, welche Wand in welchem Lastfall maßgebend wird“, erklärt Tragwerksplaner von Seggern.
Erdbeben- und Brandschutznachweise
Das Bauwerk befindet sich in der Erdbebenzone 2 der „Karte für Erdbebengefährdung für Baden-Württemberg“. Dieser Umstand erforderte außerdem rechnerische Erdbeben-Nachweise. Der Erdbeben-Nachweis für die Lastabtragung über den Stahlbetonkern erfolgte mit dem seismischen Verhaltensfaktor q=1,5. In einem weiteren Rechengang wurde der Nachweis für die Vollholzwände mit dem Verhaltensfaktor q = 2,5 (nach dem Zertifikat von holzius und der Zulassung Z-9.1-790) geführt, um realistischere Erdbebenlasten zu ermitteln. Im Gebäudemodel von FRILO mussten die mitschwingenden Massen für den Erdbebennachweis entsprechend modifiziert eingegeben werden. Deshalb legten die Ingenieure die Deckenstärken E0-E2 mit 4cm und E3 mit 3cm Stärke fest.
Weil das Gebäudemodell von FRILO die Wind- und Erdbebenlasten im Ergebnis mit charakteristischen Werten liefert, wurden die Eingabewerte nicht γ-fach erhöht. Damit die maßgebenden Schnittgrößen zwischen Wind (γ=1,5) und Erdbeben (γ=1,0) allerdings im Ergebnis miteinander verglichen werden konnten, versahen die Ingenieure die Windlasten bei den Eingabewerten mit dem Kraftbeiwert 2,8 (resultierend auch aus den Beiwerten ɣm und kmod). Für den Brandschutznachweis wurden sämtliche tragenden Stahlbetonbauteile gemäß DIN EN 1992-1-2 bzw. DIN 4102-4 feuerbeständig R90 ohne zusätzlichen Verputz ausgeführt. Die tragenden Holzbauteile wurden gemäß DIN EN 1992-1-2 bzw. DIN 4102-4 in E0-E2 hochfeuerhemmend R60 und in E3 feuerhemmend R30 ausgeführt.